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Das Kottbusser Tor als soziale Praxis

Das Untersuchungsgebiet wird seit vielen Jahren in seinen soziodemografischen Daten als stark benachteiligt ausge­wiesen. Die Wohnbevölkerung hier gehört zu der einkom­mensschwächsten Berlins, zu den Quartieren mit der höchs­ten Kinder- und Altersarmut, weiterhin hat sie einen sehr hohen Anteil an Transferleistungsbezieher*innen. Darüber hinaus ist das Kottbusser Tor seit einigen Jahren als sogenannter kriminalitätsbelasteter Ort eine Sonder­zone mit ausgeweiteten polizeilichen Befugnissen. Die Krimina­litätsstatistiken weisen vor allem seit ca. zwei Jahren sehr hohe Werte aus.

Gleichzeitig übt das Quartier weit über Berlins Grenzen hinaus große Attraktivität aus. Es gehört zu Berlins diversesten Nachbar*innenschaften. Es ist einer der wichtigsten Orte in „Kreuzberg 36“, das auch durch seine lange Geschichte von radikalen sozialen Bewegungen geprägt ist. Regelmäßig wird aus dem Bezirk zu politischen Themen mobilisiert; zahlreiche Initiativen und Vereine sorgen für eine lebendige Zivilgesellschaft. Das Kottbusser Tor ist außerdem ein touristischer Anziehungspunkt und stellt einen großen Anteil des gastronomischen und kulturellen Angebots des Bezirks.

Der Soziale Wohnungsbau war immer auch ein Programm für mittlere Einkommensgruppen und sollte nicht nur der Wohnraumversorgung der Einkommensschwächsten dienen. In den ersten Westberliner Siedlungen der Nachkriegszeit, etwa der benachbarten Otto-Suhr-Siedlung, zogen tatsächlich bevorzugt Angehörige der Mittelschicht ein. Die Baujahre der Objekte rund um das Kottbusser Tor hingegen fallen in eine Zeit, in der Besserverdienende bereits im Prozess der „Wiederentdeckung der Altbauwohnungen“ (Bouali/Gude 2014: 34) waren. Die von den Politiker*innen, Planer*innen und Investor*innen angedachte Mieter*innenzusammensetzung wurde hier nie vollständig realisiert. Stattdessen zogen teilweise „Gastarbeiter*innen“, die im Zuge der Kahlschlagsanierung entmietet wurden, ersatzweise in die Neubauten ein. Gemeinsam mit anderen einkommensschwachen Gruppen, zu denen auch der Großteil der Alternativ-, Hausbesetzungs- und anderen radikalen Bewegungen gehörten, prägten und prägen sie das Quartier. Ein Teil der Wohnbevölkerung hat, der klassischen Gentrifizierungstheorie folgend, ohne Wohnortwechsel seine Einkommens- und Familiensituation stark verändert und gemeinsam mit neu hinzukommenden Gentrifizierungsprozessen, in Form einer sich verändernden Gewerbestruktur etc., angestoßen. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass das Untersuchungsgebiet fast vollständig im Fördersystem des Sozialen Wohnungsbaus liegt. Es gab zwar Phasen, in denen die Belegungsbindung aufgehoben wurde, im wesentlichen sorgt jedoch die zwingende Vorlage eines Wohnberechtigungsscheins und die tendenzielle Bevorzugung von Altbau seitens Studierender und Kreativer dafür, dass die Bewohner*innen der Neubauten im Quartier in einer ähnlichen finanziellen Lage sind, vor allem wenn man sie mit der stark polarisierten Umgebung, einer der mittlerweile teuersten Wohngegenden Berlins, vergleicht.

Wie im vorigen Kapitel dargestellt, ist das Untersuchungsgebiet an drei Seiten umschlossen von Altbaubeständen. Südlich in der Kohlfurter Straße und nördlich v.a. in der Adalbert- und Oranienstraße existieren nach wie vor etliche Hausprojekte, die auf die Hausbesetzungsbewegung zurückgehen und die zum mittlerweile internationalen Bild von Kreuzberg gehören. Am Kottbusser Tor selbst sind demgegenüber die Biografien der „Gastarbeiter*innen“, ihrer Familien und Nachkommen, am präsentesten. „Viele Weisen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, die es hier am Kotti gibt, können mit dem Begriff der Subalternität beschr[ie]ben werden.“ (Kotti & Co 2014: 352) Das Ringen der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem Fakt, eine Einwanderungsgesellschaft zu werden, brachte ein System rassistischer Ausschlüsse hervor, die in einer sozialen Praxis und in Perspektiven resultierten, die für die Forschungsfrage von zentraler Bedeutung sind.

Das Duisburger Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung stellt im Rahmen einer Studie zur politischen Partizipation türkischer Migrant*innen fest, dass ein großer und wachsender Teil von Deutschen türkischer Herkunft sich aus rassistischen Gründen nicht durch die politischen Institutionen Deutschlands repräsentiert sieht, da die transnationale Realität moderner Migrationsgesellschaften weder diskursiv noch strukturell die deutsche Mehrheitsgesellschaft leitet (Sauer 2018).

Zu Beginn der Proteste von Kotti & Co. 2012 verfassten 18 Stadt- und Migrationswissenschaftler*innen einen Unterstützungsaufruf, der die Hoffnung ausdrückt, wissenschaftlich wie politisch der Gegenwart gerecht zu werden und nicht die Kategorien überholter Paradigmen zu perpetuieren:

[W]ir sehen […] ein Ende der Forschungen kommen, die sich eine ethnische Minderheit vornehmen und deren Besonderheiten oder Integrationsbereitschaft untersuchen. Was verstehen wir, wenn wir Untersuchungen unter den alten Paradigmen der Ethnizität, kulturellen Identität und Integration vornehmen? Herzlich wenig. […] Für eine Forschung zu Migration in dieser Stadt brauchen wir keine Forschung über MigrantInnen, sondern eine Forschung, für die Gesellschaft ohne Migration nicht denkbar ist.

Diese Studie wurde durchgeführt von Anwohner*innen, im engen Kontakt in der Nachbar*innenschaft (vgl. weiter unten die Kapitel zur Durchführung und Methode). Die Autor*innenschaft ist Teil der Studienabsicht, eine zeitgemäße und kenntnisreiche Antwort auf die Fragestellung zu formulieren, die der Komplexität der sich überlagernden Klassen- und Migrationslagen, der Einbindung in ultralokale wie transnationale Netzwerke, Religions- und anderer Zugehörigkeiten sowie politischer Lager im Untersuchungsgebiet gerecht wird.