1963 beauftragte der Berliner Senat unter Willy Brandt (SPD) eine Gruppe um den Architekten Hans Scharoun mit der Ausarbeitung des ersten Stadterneuerungsprogramms West-Berlins. Die Gebäudesubstanz in Kreuzberg stammte zu diesem Zeitpunkt zum größten Teil von vor 1900 (ca. 70%), 18,6% der Gebäude waren nach 1949 errichtet worden. Hinzu kam die unzeitgemäße Ausstattung. Beispielsweise verfügten nur 35,4 % der Häuser über Bad und Innentoilette – im Westberliner Durchschnitt waren es rund 70% (Momper 1973).
Zum Ende der 1960er Jahre begann im Rahmen des Erneuerungsprogramms der Abriss und Neubau der Wohnungen am Kottbusser Tor – Teil der sogenannten „Kahlschlagsanierung“, die den flächendeckenden Abriss kriegsbeschädigter wie unversehrter Gründerzeithäuser und deren Ersatz durch moderne Bauten vorsah. Diese Planung entsprach dem Paradigma der modernen Stadt, ihren architektonischen und städteplanerischen Leitlinien. Dazu gehörte die Verbesserung der Wohnqualität (durch Abriss der bis in die Substanz als schlecht ausgestatteten, viel zu verdichteten und insgesamt als mangelhaft eingeschätzten Bestandsbauten), eine Neugestaltung öffentlicher Räume und der Verkehrsplanung, die funktionale Trennung und Autoverkehr in den Mittelpunkt stellte (Momper 1973). Am Kottbusser Tor entstanden im Zuge des darauffolgenden Neubaus vor allem vier verschiedene Wohnblöcke – alle im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus (Hamann/Kaltenborn 2015:31).
Auf der Nordseite des Kottbusser Tors wurde bis 1974 trotz zahlreicher Proteste das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ) fertiggestellt, für dessen Bau unzählige Altbauten abgerissen und Mieter*innen entmietet wurden (Mösken 2014). Das NKZ hat 294 Wohneinheiten und etwa 100 Gewerbeeinheiten. Als Bauherrin gründete sich eine Kommanditgesellschaft. Sie bestand aus ca. 500 Anleger*innen, denen durch die Fördersystematik des Sozialen Wohnungsbaus und des Berlinhilfegesetzes lukrative Steuerabschreibungen ermöglicht wurden und die mit Investitionszulagen der landeseigenen Immobilienbank IBB (bis 1993 Wohnungsbau-Kreditanstalt Berlin) zusätzlich unterstützt wurden (Mösken 2014, siehe auch weiter unten „Förderkulisse“). Entworfen wurde der Gebäudekomplex von den Architekten Johannes Uhl und Wolfgang Jokisch. Kerngedanke war die Beziehung zur umliegenden Bebauung, wobei viele ursprüngliche Ideen der Architekten wie beispielsweise ein Lesehof nicht umgesetzt wurden. Die halbkreisförmige Gebäudetypologie steht im Zusammenhang mit den Autobahnplanungen, die eine Autobahn auf der nur ca. 50 Meter entfernten Oranienstraße und am benachbarten Oranienplatz ein Autobahnkreuz vorsahen. Das Gebäude hatte deshalb ursprünglich auch eine Lärmschutzfunktion, heute noch durch die fast völlig geschlossene Fassade Richtung Oranienstraße sichtbar.
Bevor mit dem Bau begonnen werden konnte, mussten die z.T. noch stehenden Gebäude entmietet und abgerissen werden. Einer der Investoren des NKZ kommentierte das Entfernen von Türen und Fenstern eines bewohnten Hauses in der Dresdener Straße 131 mit den Worten „wir wollen nicht, daß sich Gastarbeiter und anderes Gesindel einnisten“ (Der Spiegel 1973). Auch das NKZ war nicht für Migrant*innen gebaut; der Soziale Wohnungsbau richtete sich an „die breiten Schichten des Volkes“ und sollte auch erzieherische Effekte haben, etwa zur „Entfaltung eines gesunden Familienlebens“ und der Anregung zum „Sparwillen“ (II. WoBauG §§ 1,2).
Das NKZ konnte sich bei Eröffnung nicht gegen den Bezirkstrend eines breiten Gewerbeleerstands stemmen. Dies sorgte Anfang der 1980er Jahre für ernste finanzielle Schwierigkeiten (Spiegel Online 2014). Das Gebäude verwahrloste (Perdoni 2017a) und erst Ende der 1980er Jahre wurde versucht, die Lage zu verbessern: Das zugehörige Parkhaus in der Dresdener Straße wurde Kindertagesstätte; die integrierte Bauweise des Hauptgebäudes und der Gewerbevorbauten wurden durch Abriss der Betontreppen aufgelöst. 1999 wurde der Name offiziell in „Zentrum Kreuzberg“ geändert und der neu eingesetzte Geschäftsführer setzte weitere bauliche Änderungen und verbesserte Konditionen für Gewerbemieter*innen durch, was seit Mitte der 2000er die Situation verbesserte (Leiß 2014).
Im April 2017 wurde das Gebäude für 56,5 Millionen Euro durch die städtische Wohnungsbaugesellschaft Gewobag erworben (Perdoni 2017b). Im Bieterverfahren wurde dabei auch das im Milieuschutzgebiet geltende Vorkaufsrecht in die Waagschale geworfen. Im Wettstreit konnte sich jedoch die kommunale Gewobag durchsetzen, ohne dabei auf das bezirkliche Vorkaufsrecht zurückzugreifen.
Auf der Südseite des Kottbusser Tors, entstanden seit den frühen 1970er Jahren bis in die 1980er Jahre drei Häuserblöcke zwischen Reichenberger und Skalitzer Straße. Auch hier kam in einem kleineren Teil, zwischen Skalitzer und Admiralstraße, ein Zusammenschluss vermögender Westdeutscher als Investmentfonds zusammen, um seine Mittel zur Wahrnehmung der zahlreichen Vorteile der Investitionen in Westberliner Sozialen Wohnungsbau zu bündeln. Dieser Teil – etwa 110 Wohnungen - wird heute von der Omnia Hausverwaltung bewirtschaftet. Der große Rest des südlichen Kottbusser Tors, bis weit hinein in den benachbarten Wassertorplatz, wurde als kommunaler Sozialer Wohnungsbau von der GSW errichtet. Einige wenige Häuser wurden im Zuge der allmählichen Abkehr vom Prinzip der Kahlschlagsanierung im gleichen Förderprogramm nicht neu errichtet, sondern grundlegend saniert. Hier sind insgesamt etwa 946 Wohneinheiten und 57 Gewerbeeinheiten angesiedelt. 2004 wurde die GSW und damit deren gesamten Wohnungsbestand von der Landesregierung Berlins für 405 Millionen an das US-amerikanische Fondsmanagement Cerberus verkauft (Paul 2004). Im Jahr 2013 ging der komplette Wohnungsbestand der ehemaligen GSW in den Besitz der Deutschen Wohnen über. Die Deutsche Wohnen ist damit aktuelle Eigentümerin der knapp 840 „Sozialwohnungen“ am südlichen Kottbusser Tor.
Die Umgebung des Untersuchungsgebietes ist von fünf- bis sechsgeschössigen Altbauten umringt, die größtenteils vor 1918 errichtet wurden, als die Errichtung von Quergebäuden und Seitenflügeln gesetzlich verboten wurde. Westlich schließen am Böcklerpark und Wassertorplatz Großwohngebäude an das Kottbusser Tor an, die im oben skizzierten Stadtumbauprogramm in gleicher Zeit und unter gleichem Paradigma errichtet wurden wie die Gebäude im Untersuchungsgebiet.
Prägend für die politischen Einflussmöglichkeiten auf die Objekte im Untersuchungsgebiet sind folgende Merkmale:
Das Fördersystem des Sozialen Wohnungsbaus ist für das Untersuchungsgebiet von besonderer Bedeutung und soll deshalb kurz dargestellt werden: Der Soziale Wohnungsbau wurde seit 1956 in der Bundesrepublik Deutschland vor allem als Eigentums- und Investitionsförderung betrieben. Dabei wurden vom Staat Förderprogramme für private, genossenschaftliche und gemeinnützige Investor*innen aufgelegt, die den Wohnungsbau in Westdeutschland der Nachkriegszeit ankurbeln sollten (vgl. Holm 2016: 48f.). Der Bau der Häuser am Kottbusser Tor Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Sozialen Wohnbauförderung wurde dabei in doppelter Hinsicht gefördert (vgl. ebd.:77).
Erstens wurden Investitionen in Westberlin aufgrund des „unsicheren Investitionsklimas“ bis 1991 durch das sogenannte „Berlin-Darlehen“ gefördert, das sowohl zusätzliche steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten als auch extrem hohe steuerliche Nachlässe für Investor*innen beinhaltete (vgl. ebd.: 74; AG Kostenmiete 2014:23). Dies führte dazu, dass der Eigenkapitaleinsatz der Investor*innen oftmals „[…] komplett aus der Steuer finanziert werden [konnte]“ und damit gleich null war. Die Investitionen in Neubau und Immobilien in West-Berlin kosteten die Investor*innen dementsprechend nichts (ebd.).
Zweitens wurde der Bau von „Sozialwohnungen“ durch öffentliche Fördergelder direkt subventioniert. Dabei werden die Eigentümer*innen für den Bau von Sozialwohnungen über einen Förderzeitraum von bis zu 60 Jahren mit jährlichen Darlehen und Zuschüssen unterstützt. Diese Förderungen garantieren dabei in erster Linie die Gleichzeitigkeit einer Kostenmiete für die Eigentümer*innen und einer „Sozialmiete“ für die Mieter*innen. Die Investor*innen legen dabei gemeinsam mit der staatlichen Förderbank vor dem Bau der Häuser eine sogenannte Kostenmiete fest. Diese setzt sich aus den von den Eigentümer*innen kalkulierten Bewirtschaftungs- und Kapitalkosten zusammen (Holm 2016:54; AG Kostenmiete 2014:22). In Berlin beträgt die durchschnittliche Kostenmiete im Sozialen Wohnungsbau ca. 13 Euro pro Quadratmeter. Und ist damit im Jahr 2016 noch mehr als doppelt so hoch wie die durchschnittlichen Mieten auf dem freien Wohnungsmarkt (ebd.:77). Von staatlicher Seite wird demgegenüber eine „Sozialmiete“ festgelegt, die die Vermietung der entstandenen Wohnungen an breite Teile der Bevölkerung durch Belegungsbindungen und gegen das „Höchstzulässige“ unterhalb der örtlichen Vergleichsmieten garantieren soll (Holm 2016:55). Die Mieter*innen der „Sozialwohnungen“ zahlen demnach eine staatlich festgelegte „Sozialmiete“, während die Eigentümer*innen der Wohnungen eine von ihnen festgelegte Kostenmiete erhalten. Die Differenz zwischen beiden wird durch die staatlichen Subventionen beglichen (ebd.).
Die öffentliche Förderung der Häuser am Kottbusser Tor wurde in Form des seit den 1970er Jahren im Sozialen Wohnungsbau üblichen „degressiven Förderverlaufs“ finanziert. Das bedeutet, dass die öffentlichen Förderungen, mit denen sich der Staat an der Kostenmiete beteiligt, jährlich zurückgehen. Damit steigt der Teil der Kostenmiete, der durch die Mieter*innen getragen werden muss. Praktisch bedeutet das, dass die Mieten am Kottbusser Tor sich jährlich erhöhen.
Gleichzeitig haben die Vermieter*innen die Möglichkeit, die zulässigen Sozialmieten nicht voll auszuschöpfen, sondern an einem späteren Zeitpunkt gebündelt nachzuholen. Am Kottbusser Tor wurde aufgrund des jahrelang entspannten Wohnungsmarkts die vollständig zulässige Miethöhe nicht ausgenutzt. Seitdem die Wohnlage im Herzen Kreuzbergs zunehmend interessanter wird und die Vergleichsmieten rasant steigen, werden diese zuvor ausgesetzten Mieterhöhungen zunehmend nachgeholt. Für die Mieter*innen bedeutet das nicht nur die Möglichkeit einer jährlichen Mieterhöhung von 0,13€/m2, sondern auch, dass diese Mieterhöhung beliebig ausgesetzt und folgend in doppelt oder dreifacher Höhe nachgeholt werden kann. Rechtlich kann gegen beide Fälle nichts unternommen werden.
Solange die Eigentümer*innen dabei öffentliche Förderungen erhalten, gilt das System der Sozial- und Kostenmiete. Danach treten die Eigentümer*innen in eine sogenannte Rückzahlphase ein, bei der sie die öffentlichen Darlehen zurückzahlen (AG Kostenmiete 2014:24). Werden die öffentlichen Darlehen vorzeitig zurückgezahlt, wie es im Untersuchungsgebiet (und in ganz Berlin) der Fall ist, gilt eine Nachbindungsfrist von 12 Jahren. Sobald diese Nachbindungsfrist vorbei ist, gilt nicht länger das System der „Sozial“- und Kostenmiete und die staatlichen Belegungsbindungen werden aufgelöst. Die Häuser gehen ab diesem Zeitpunkt in den freien Wohnungsmarkt über, wobei nun die volle Kostenmiete verlangt werden kann, ohne das die Mietpreisbremse gelten würde. Die Eigentümer*innen können die Häuser modernisieren und entsprechende Kosten auf die Mieter*innen umlegen, der Staat hat keinen Einfluss auf die Vergabe der Wohnungen oder die zu erwartenden weiteren Mieterhöhungen.
Für die Eigentümer*innen der Häuser am Kottbusser Tor bedeutet das eine besonders lukrative Situation. Auf der einen Seite ermöglicht die Kostenmiete von durchschnittlich über 13 Euro pro Quadratmeter und die Eigenkapitalverzinsung von bis zu 6,5% eine auf Jahrzehnte gewährleistete feste Gewinnerwartung, die nicht den Schwankungen des Kapital- bzw. Mietpreismarktes unterworfen sind (Holm 2016:74). Zum Anderen gibt es die Erwartung, dass bei Austritt aus der Fördersystematik die Preise je nach Wohnlage durch Modernisierung und Eintritt in den freien Wohnungsmarkt gesteigert werden können. Das Kottbusser Tor liegt dabei im Herzen Kreuzbergs – einer der Wohnlagen, in denen die Mietpreise in Berlin in den letzten Jahren am stärksten gestiegen sind (Berlin Hyp/CBRE 2018, GSW/CBRE 2012). Daraus ergibt sich ein besonders hohes Interesse der Eigentümer*innen, die öffentlichen Darlehen abzulösen und sich damit aus dem Status Sozialer Wohnungsbau zu lösen.
Beim Neuen Kreuzberg Zentrum sind seit Fertigstellung 1974 bis 2004 knapp 52 Mio. € öffentliche Mittel an die Eigentümerin geflossen. Zins und Tilgung wurde ab 2004 aufgrund drohender Insolvenz ausgesetzt, was einer weiteren Förderung in Höhe von 10 Mio. € entsprach. Demgegenüber stehen 65 Mio. € Steuerersparnis und Abschreibung der Kommandist*innen (Villinger 2004).
Für 16 Objekte auf der Südseite des Kottbusser Tors wurden die öffentlichen Darlehen bereits durch die Deutsche Wohnen frühzeitig zurückgezahlt. Das führt dazu, dass ab 2023 die ersten Häuser am Kottbusser Tor aus den Sozialbindungen herausfallen. Die knapp 260 Wohnungen in der Admiralstraße 3-5, 33-36, der Kottbusser Straße 15, 20-25 sowie der Reichenberger Straße 18 treten damit bereits in naher Zukunft in den privaten Wohnungsmarkt über, damit verliert auch die Politik Eingriffsmöglichkeiten auf die dann folgenden Mietentwicklungen (Kotti & Co 2018).
Seit der Errichtung der aktuellen Bebauung ist das Fördersystem Sozialer Wohnungsbau die entscheidende Dimension stadt- und wohnungspolitischer Einflussnahme auf das Gebiet gewesen. Dieses Fördersystem sieht in seiner aktuellen Fassung keine mietenbegrenzende Regelung für Wohnungen vor, die den Status „sozial gefördert“ verlieren; die volle Kostenmiete wird als mögliche Einstiegsmiete in das Vergleichsmietensystem angesetzt 1 . Die Belegungsbindung wird wegfallen. Mietpreisbremse oder andere dämpfende Instrumente kommen hierbei nicht zur Anwendung. Die Möglichkeit anschließender, mietpreissteigernder Modernisierungsmaßnahmen ist außerdem gegeben und bei den Beständen der Deutschen Wohnen nicht unwahrscheinlich, angesichts der sehr niedrigen Instandhaltungsaktivitäten am Kottbusser Tor und den umfangreichen Modernisierungsmaßnahmen in der benachbarten Otto-Suhr-Siedlung.
Durch eine Rekommunalisierung der Sozialwohnungen am südlichen Kottbusser Tor würde das Land den Wegfall der wohnungspolitischen Einflussmöglichkeiten durch Auslaufen der Förderung ersetzen können durch unmittelbare Kontrolle über die weitere Entwicklung als Eigentümerin.
Das Milieuschutzgebiet Luisenstadt wurde 2018 auf das Kottbusser Tor ausgeweitet. Die bisherige Einschätzung, unter Berücksichtigung der Förderkulisse sei die Wohnzusammensetzung im Quartier nicht gefährdet, wurde revidiert. Damit sind bei bestimmten Modernisierungsmaßnahmen, dem Verkauf der Wohnungen und Umwandlung in Eigentumswohnungen im Untersuchungsgebiet enge Grenzen gesetzt.
In unmittelbarer Nähe zum Untersuchungsgebiet macht die Mieterinitative Mani & May seit September 2017 auf die drastischen Konsequenzen aufmerksam, die in ihrem Block das Wegfallen der Sozialbindungen hatte. Der Eigentümer nutzte diese Gelegenheit in Verbindung mit Regulierungslücken, um die volle Kostenmiete zu verlangen, damit Mieterhöhungen von 30-50% auszusprechen und die Deckelung durch den Mietspiegel zu umgehen (Institut für demokratische Stadtentwicklung 2017; Šustr 2017). ↩